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„Gerne der Zeiten gedenk‘ ich …“ (Goethe)

Anlässe für das Eingedenken der Zeiten bieten sich zu allen Zeiten an, insbesondere jedoch dann, wenn Einschnitte und Zäsuren die Zeit in ein Vorher und Nachher teilen, wenn etwa ein Jahr sich dem Ende neigt. Dann ist die Zeit für Rückblicke und Ausblicke. Und es ist die Zeit der Erinnerungen, sofern diese nicht ihrerseits ein Opfer der Zeit geworden sind. – Der Lauf der Zeit bringt dann an den Tag, was aus vergangenen Hoffnungen geworden ist und welche Anlässe der Hoffnung noch verbleiben. Die Geschichte der Ernüchterung betrifft auch jene Hoffnung, welche man noch vor zehn oder zwanzig Jahren mit der Verbreitung des Internets für große Teile der Bevölkerung verbunden hat. Soziale Medien und ihre Geschwindigkeitsgewinne ließen Kommunikationsformen denkbar werden, welche die bis dahin konventionellen Formen als umwegige Arrangements erscheinen ließen. Der Diskurs der Philosophie blieb davon nicht unberührt. – Philosophische Foren boten mit einem Mal die Möglichkeit, sich mit Entlegenen über Entlegenes auszutauschen. Was anfangs der 90er Jahre noch unter nahezu konspirativen Bedingungen stattfand, wurde alsbald zu Massenveranstaltungen mit mehreren Tausend Mitgliedern. Das Netz bescherte den philosophisch Interessierten ein Publikum. Der hohe Ton der akademischen Debatte traf auf Unvertraute, Wissbegierige, Bekehrer aller Provenienz, Weltverbesserer, Weltverweigerer und Ungestüme aller Art. Konfusion und Orientierungslosigkeit führten in der Folge zu Schließungen, Neueröffnungen, Spaltungen. Seit einigen Jahren hat der Typus des Hasspredigers für die Beschleunigung dieser Prozesse gesorgt. Doch kaum etwas lähmt den philosophischen Diskurs im Netz mehr als der Einbau und die Übernahme jener Gebärdensprache, die stolz darauf ist, ihre „Message“ auf 140 Zeichen reduzieren zu können oder jener „Freundschaften“ ermöglichenden Plattform, die ihre gesichtzeigenden Nutzer kurzerhand zu Autoren erhebt. Nicht, daß man sich diese Dienste nicht zunutze machen könnte. Aber ihr Nutzen besteht nicht in der Implementierung der in solchen sozialen Medien gängigen Sprach- und Denkungsart. Ihr Nutzen besteht in der Kontaktaufnahme. Man kann Kommunikationsofferten hinterlegen. Jedoch erweist sich die bereitwillige Übernahme der „Dialekte“ der sozialen Medien in der Regel als ein Element der Ausdünnung philosophischer Gehalte. Auch die „Botschaften“ der Philosophie und Literatur werden dann auf 140 Zeichen reduziert und der semantische Reichtum des Gedankens wird auf Höhe der eigenen Verkürzung eingeebnet. Die Sprachstandards der sozialen Medien verkleistern gleichsam die Poren des philosophischen Gedankens. Mit der Hemdsärmeligkeit des Unbedachten verliert sich auch der Respekt vor dem philosophischen Text und seiner Tiefe. Gerade die Tiefe ist der erste Punkt, der auf der Strecke bleibt. Das liegt nicht an der rein formalen Begrenztheit der Zeichen – manche Fragmente der Vorsokratiker ließen sich als SMS verschicken – , sondern daran, daß der philosophische Gedanke nicht recht zur Entfaltung kommt. Vielleicht bricht eine Zeit an, in der das Projekt Philosophie im Netz neu überdacht werden muss.

Nauplios